Olympia 2022 Peking: ARD-Teamchef Christoph Netzel

Olympische Winterspiele 2022 in Peking ARD-Teamchef Netzel: "Knallharte Olympia-Auflagen in China"

Stand: 13.12.2021 13:30 Uhr

Für ARD-Teamchef Christoph Netzel sind die Winterspiele von Peking schon jetzt "die kompliziertesten Spiele aller Zeiten". Im Interview spricht er über die Schwierigkeiten in einem umstrittenen Gastgeberland und über das veränderte Olympia-Programmkonzept.

Frage: Für Sie sind es die 13. Olympischen Spiele: Olympia in China – und das auch noch in Corona-Zeiten. Wie schwierig ist die Vorbereitung?

Christoph Netzel (ARD-Teamchef Peking 2022, Sportchef Bayerischer Rundfunk): "Zum Abschluss von Olympia hört man oft den Spruch 'the best games ever'. Unser Fazit zu Peking lautet bereits jetzt: the most complicated games ever!

Verlässliche Informationen des Organisationskomitees für unsere Planungen sind eine Rarität. Hinzu kommt die chinesische Null-Covid-Politik. Sicherheit hat in der Pandemiezeit natürlich oberste Priorität. Aber die knallharten Auflagen in China sind beispiellos.

Wenn Rodel-Doppel-Olympiasiegerin Natalie Geisenberger nach ihren Erfahrungen damit bei den Testwettkämpfen in Peking ernsthaft einen Olympiaverzicht in Erwägung zieht, sagt das einiges aus.

"Es ist nicht gewünscht, dass wir uns frei bewegen"

Es gibt kritische Stimmen, die sagen, dass all diese Maßnahmen den gewünschten Nebeneffekt haben sollen, die Arbeitsmöglichkeiten der internationalen Medien massiv einzuschränken.

Dazu passt, dass für das gesamte Team von ARD und ZDF gerade mal zwei Mietwagen zur Verfügung stehen, natürlich mit einem chinesischen Fahrer. Das Signal ist klar: Es ist nicht gewünscht, dass wir uns frei bewegen können."

Frage: Gibt es weitere Komplikationen?

Netzel: "Absolut problematisch sind auch Transport und Logistik. Internationale Linienflüge nach Peking gibt es rund um die Spiele nicht, gewünschte Flugdaten müssen beim Organisationskomitee angemeldet werden. Wenige Wochen vor Beginn der Spiele haben wir noch keine verlässlichen Daten.

Und: Seit Monaten sind die großen Häfen in China wegen Corona geschlossen, was den Transport von Technik für TV und Hörfunk immens erschwert. Als Alternative hätte es eine Abenteuerreise mit der Bahn über Sibirien gegeben - für die sensiblen Geräte hätte es aber beheizbare Container gebraucht, die nicht verfügbar waren.

Die Option Luftfracht war aus Kostengründen nicht vertretbar. Deshalb mussten wir unser Sendekonzept den Rahmenbedingungen anpassen und komplett umdenken. Für das gesamte Planungsteam waren und sind diese vielen Unwägbarkeiten eine riesige Herausforderung – und auch in den nächsten Wochen werden gute Nerven und hohe Flexibilität gefragt sein."

Frage: Letztlich fiel die Entscheidung, die Olympia-Sendungen aus dem Heimatstudio in Mainz zu präsentieren. Was war ausschlaggebend dafür?

Netzel: "Bis zum Sommer war das ARD-/ZDF-Olympiastudio noch vor Ort in Peking vorgesehen. Aber neue Entwicklungen und Erkenntnisse erfordern neue Entscheidungen.

Bei der rationalen Abwägung aller Aspekte war uns klar, dass wir die Personalstärke und den technischen Aufwand vor Ort deutlich reduzieren und den Schwerpunkt in die Heimat verlegen – wie übrigens auch andere internationale Sender.

Drei Argumente für Sendezentrum in Deutschland

Drei Faktoren haben den Ausschlag gegeben. Erstens das Motto 'Safety first' für unser Team. Die Einschränkungen der persönlichen Freiheiten, die Kontrollen und Überwachungen sind eine echte Belastung. Hinzu kommt die Vorstellung, im Falle eines positiven Corona-Tests in chinesischer Isolation zu landen.

Zweitens ist durch ein Olympiastudio in Deutschland die Sendesicherheit in jedem Fall garantiert.

Und drittens: Hätten wir am ursprünglichen Plan festgehalten, wären die Kosten angesichts der vielen Unwägbarkeiten vor Ort nicht mehr seriös kalkulierbar gewesen – für uns im Sinne unserer Beitragszahlerinnen und -zahler ein klares K.o.-Kriterium. Kurzum: Wir haben eine Entscheidung der Vernunft getroffen."

Frage: Direkte Eindrücke aus Peking werden trotzdem nicht fehlen …

Netzel: "Dass wir 'eigene Augen, Ohren und Stimmen' vor Ort haben, ist unser unverrückbarer journalistischer Anspruch. Deshalb sind wir mit einem kleinen und kompetenten Team in Peking am Start, darunter erfahrene Reporterinnen und Reporter: Michael Antwerpes als Presenter, ARD-Korrespondentin Tamara Anthony und Hajo Seppelt, ARD-Experte für Sportpolitik und Doping.

Emotionale Interviews, ungefilterte Informationen, eigene Eindrücke und Einordnungen, hintergründige Recherchen sind elementar – gerade in einem Gastgeberland, das von der Organisation 'Reporter ohne Grenzen' in der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 177 von 180 aufgeführt wird.

"Kritische Einschätzungen lassen wir uns nicht verbieten"

Kritische Einschätzungen werden wir uns sicher nicht verbieten lassen. Regelmäßige Liveschalten zu unseren Leuten in Peking werden eine wichtige Säule im Programm sein.

Der programmliche Doppelpass zwischen Mainz und Peking ist dabei eine echte Herausforderung: Knapp 8.000 Kilometer Entfernung und sieben Stunden Zeitverschiebung erfordern spezielle Workflows."

Frage: Vor der Kamera bietet Das Erste geballte Frauen-Power mit den beiden Moderatorinnen Jessy Wellmer und Julia Scharf.

Netzel: "Das ist eine echte TV-Premiere, erstmals präsentieren zwei Frauen als Anchor-Moderatorinnen die Olympischen Spiele im Ersten. Die Runde der ARD-Sportchefinnen und -Sportchefs hat dem gemeinsamen Vorschlag von BR und ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky einstimmig zugestimmt. Hinzu kommt Julia Büchler, die den täglichen Olympia-Block in den Tagesthemen moderiert.

Bei den Paralympics haben wir mit Moderatorin Stephanie Müller-Spirra und Expertin Anna Schaffelhuber, die in dieser Rolle Premiere feiert, ebenfalls zwei starke Frauen im Einsatz.

Aber es gibt natürlich auch jede Menge männliche Kompetenz in unserem Team, vor der Kamera oder am Mikro melden sich zahlreiche erstklassige Reporter und Kommentatoren. Wie in jedem guten Team gilt: Die Mischung macht's!"

Frage: Es gibt viel Grundsatzkritik an den Olympischen Spielen in China - können Sie die verstehen?

Netzel: "Absolut - auch wir haben uns diesen Austragungsort nicht ausgesucht. Olympia kann aber auch helfen, kritische Themen unter die mediale Lupe zu setzen, wie die Missachtung von Menschenrechten in China oder die Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit.

TV-Dreh mit Felix Neureuther sollte verhindert werden

Letzteres haben wir selbst zuletzt im kleinen Rahmen bei den Dreharbeiten für unseren Film 'Spiel mit dem Feuer' erlebt. Während eines Gesprächs unseres ARD-Experten Felix Neureuther mit Vertretern der Uiguren vor dem chinesischen Konsulat in München wollten Angestellte den Dreh verhindern und abbrechen. Diese Bilder gibt es in der Hintergrund-Doku im Vorfeld der Spiele zu sehen.

"China Inside" - der kritische Blick auf den Gastgeber

Dazu wird ARD-Korrespondentin Tamara Anthony in ihrer Reportage "China Inside" am 31. Januar einen kritischen Fokus auf das Gastgeberland richten. Auch die Rolle des IOC werden wir mit Hajo Seppelt genau beobachten. Die IOC-Gremien waren es schließlich, die diese umstrittenen Winterspiele nach Peking vergeben haben.

Klar ist aber auch: Der Sport steht im Mittelpunkt, das haben alle Athletinnen und Athleten verdient. Wir freuen uns gemeinsam mit den vielen Wintersportfans in Deutschland auf tolle und emotionale Wettkämpfe.

Biathletin Franziska Preuß hat es im neuen Sportschau-Podcast 'Olympia-Countdown' gut auf den Punkt gebracht: 'Es war nicht der Traum, Olympia in Peking zu erleben. Aber es ist der Traum eines jeden Sportlers, Olympia zu erleben.' Dieses Spannungsverhältnis werden wir abbilden."

Olympische Winterspiele 2022 vom 4. bis zum 20. Februar

Die Olympischen Winterspiele 2022 finden vom 4. bis 20 Februar in Peking statt. Das ARD-Angebot sportschau.de/olympia wird kontinuierlich ausgebaut. Durch die Zeitverschiebung (sieben Stunden) beginnen die ARD-Übertragungen in der Regel bereits um 2.00 Uhr nachts. Die Wettkampftage in China enden gegen 16.00 Uhr deutscher Zeit.